Um die Funktionsfähigkeit des Nationalstrassennetzes zu erhalten, hat das Parlament für punktuelle Ausbauprojekte 5,3 Milliarden Franken gesprochen. Gegen diese Ausbauprojekte wurde das Referendum ergriffen. Im Herbst stimmt die Schweiz darüber ab; Jürg Röthlisberger, Direktor Bundesamt für Strassen, erläutert im Interview mit dem AGVS die Hintergründe.
Das Interview wurde von Tahir Pardhan, Leiter Recht & Politik Auto Gewerbe Verband Schweiz im Mai 2024 durchgeführt und von AGVS erstpubliziert.
Herr Röthlisberger, warum ist es wichtig, dass die Nationalstrassen ausgebaut werden – reicht die aktuelle Infrastruktur nicht mehr aus?
Jürg Röthlisberger, Direktor Bundesamt für Strassen (Astra): Die Nationalstrassen sind die Stütze des Strassenverkehrs in der Schweiz. Auf rund drei Prozent des gesamten Strassennetzes werden über 40 Prozent des Verkehrs abgewickelt, beim Güterverkehr sind es über 70 Prozent. Auf diesen Strassen kommt es aber immer mehr zu Staus und in der Folge zu Ausweichverkehr auf den Kantons- und Gemeindestrassen. Primär versuchen wir, mit Verkehrsmanagement etwa durch dynamische Geschwindigkeitsangaben oder Tropfenzähler bei Einfahrten, die bestehenden Flächen besser zu nutzen. Der Nutzen dieser Mittel ist aber begrenzt, so dass ein punktueller Ausbau unausweichlich ist.
Inwiefern hat der Ausbau der Nationalstrassen Einfluss auf ein erhöhtes Verkehrsaufkommen? Führt ein Ausbau nicht zu mehr Verkehr?
Gemäss allen Prognosen wachsen Bevölkerung und Wirtschaft weiterhin, womit die Nachfrage nach Mobilität für Menschen und Güter hoch bleibt. Stau auf den Nationalstrassen führt zu Ausweichverkehr auf den Kantons- und Gemeindestrassen. Indem wir Stauschwerpunkte mit einem punktuellen Ausbau beheben, lenken wir diesen Verkehr wieder zurück auf die Nationalstrasse. Der Mehrverkehr auf den Autobahnen ist dann kein negativer Nebeneffekt, sondern die erhoffte Wirkung des Ausbaus.
Gibt es bereits realisierte Ausbauprojekte, welche die Vorteile eines gezielten Ausbaus verdeutlichen?
Der Ausbau der Nordumfahrung Zürich ist hierzu ein gutes Beispiel: Seit der Inbetriebnahme der dritten Röhre des Gubristtunnels sind die Staustunden und auch die Unfallzahlen deutlich gesunken. In der Folge verlagerte sich der Verkehr zurück auf die Autobahn. Kantons- und Gemeindestrassen wurden punktuell um bis zu 20 Prozent entlastet. Nicht zu vergessen ist zudem, dass der neue Tunnel die Instandsetzung der bestehenden Röhren erst ermöglicht. Denn oft sind punktuelle Ausbauten notwendig, damit wir die bestehende Infrastruktur überhaupt erst instand setzen können, ohne den Verkehr massiv zu beeinträchtigen.
Ein solches Projekt kostet eine Menge Geld. Das Referendum gegen den Ausbau betrifft sogar sechs Projekte beziehungsweise fünf Streckenabschnitte. Von welchen Projekten und Summen sprechen wir genau?
Das Parlament hat für den Ausbauschritt einen Verpflichtungskredit von 5,3 Milliarden Franken gesprochen. Mit diesen Mitteln soll die A1 zwischen Le Vengeron, Coppet und Nyon und vor Bern die Strecke Wankdorf – Schönbühl bzw. Schönbühl – Kirchberg ausgebaut werden. Bei drei weiteren Projekten handelt es sich um Tunnelprojekte: der Rheintunnel in Basel, eine zweite Röhre des Fäsenstaubtunnels in Schaffhausen sowie der Bau einer dritten Röhre des Rosenbergtunnels in St. Gallen. Damit können wir insbesondere die Sicherheit und die Unterhaltsfähigkeit der Infrastrukturen verbessern.
Wer finanziert diese Projekte? Muss der Steuerzahler nun fürchten, dass die Steuern erhöht werden?
Die 5,3 Milliarden Franken werden aus dem Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds, kurz NAF, entnommen und sind zu 100 Prozent durch die Strassennutzerinnen und -nutzer finanziert.
Sie haben den NAF erwähnt. Sind da genügend Mittel vorhanden, um die Kosten abzudecken, und woher stammen diese Mittel überhaupt?
Indem Bevölkerung und Stände 2017 dem NAF deutlich zugestimmt haben, wurde ein nachhaltiges Instrument zur Finanzierung von Betrieb, Unterhalt und punktuellem Ausbau der Nationalstrassen geschaffen. Die Einlagen stammen aus verschiedenen Quellen: So fliessen 100 Prozent des Mineralölsteuerzuschlags, der Autobahnvignette sowie der Automobilsteuer in den NAF. Ergänzt werden die Einlagen in der Regel durch zehn Prozent der Mineralölsteuer sowie durch Kompensationsbeiträge der Kantone wegen der Übertragung von Kantonsstrassen im Rahmen des Neuen Netzbeschlusses.
Das heisst, die Projekte sind bereits durch die Strassenbenutzenden finanziert. Könnte man diese Gelder nicht auch für andere Zwecke einsetzen wie beispielsweise die Bahninfrastruktur?
Wie die Gelder aus dem Fonds verwendet werden dürfen, ist in der Bundesverfassung geregelt: Mit den Einlagen im Fonds können der Betrieb, Unterhalt und punktuelle Ausbau der Nationalstrassen sowie Massnahmen zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in Städten und Agglomerationen im Zusammenhang mit dem Strassenverkehr finanziert werden. Die Verwendung für andere Zwecke ist nicht möglich. Daneben fliessen bereits heute jährlich mehrere Milliarden Franken von den Strassennutzenden in die allgemeine Bundeskasse und in den Bahninfrastrukturfonds.
Profitieren also nur Automobilistinnen und Automobilisten vom Ausbau bei einem «Ja» an der Urne?
Direkt und indirekt profitieren alle Verkehrsteilnehmenden – vom Automobilisten auf der Nationalstrasse über die Busfahrerin in einer Agglomeration, die Velofahrerin auf den Gemeindestrassen bis hin zum Kind auf dem Schulweg: Indem wir den Verkehrsfluss auf den Nationalstrassen erhöhen, werden Kantons- und Gemeindestrassen entlastet. Dies erhöht auch dort die Verkehrssicherheit und schafft Raum für die weitere Entwicklung des öffentlichen Verkehrs sowie des Fuss- und Veloverkehrs.
Was hätte ein allfälliges «Nein» des Volkes zur Folge?
Bei einem Nein könnten wir die sechs Projekte des Ausbauschritts 2023 nicht realisieren und auch die anderen Ausbauprojekte zur Entlastung der Dörfer und Agglomerationen wären damit stark in Frage gestellt. Wir sind überzeugt, dass Stillstand bei der Infrastrukturentwicklung eine sehr schlechte Antwort auf die Dynamik von Wirtschaft und Gesellschaft ist. Deshalb sind wir zuversichtlich, dass wir der Stimmbevölkerung den Nutzen eines langfristig funktionierenden Nationalstrassennetzes aufzeigen können.
Mit welchen weiteren Vorurteilen zum Ausbau sieht sich das Astra aktuell am meisten konfrontiert?
Ein wichtiges Thema ist verständlicherweise der Verlust von Fruchtfolgeflächen. Erstens benötigen wir zum Glück relativ wenig, nämlich rund acht Hektaren. Zweitens kompensieren wir diese zu 100 Prozent. Was uns in den Diskussionen rund um den Ausbau aber besonders auffällt, sind die ganz grundsätzlichen Vorbehalte gegenüber dem Strassenverkehr und das Denken in Ausschliesslichkeit. «Man muss nur» hört man viel zu oft. Man müsse nur den ÖV und das Velo fördern und zudem ein wenig Homeoffice anordnen, und die Verkehrsprobleme sind gelöst. Leider hält sich die Realität nicht an derart simple Postulate. Sie verlangt vielmehr danach, dass wir einerseits mehr Effizienz aus den bestehenden Angeboten und technologischen Möglichkeiten herausholen und die Potenziale der Digitalisierung und Elektrifizierung erschliessen. Andererseits müssen wir die Verkehrsinfrastrukturen – Strasse und Schiene – punktuell ausbauen. Dies vor allem auch aus Gründen der Sicherheit, der Resilienz und der Unterhaltsfähigkeit. Schlussendlich gilt: Die Mobilität der Zukunft braucht die besten Gedanken und die effizientesten technischen Lösungen. Stillstand hingegen scheint uns eine denkbar schlechte Antwort auf diese Dynamik zu sein.
Abschlussfrage: Was möchten Sie den Schweizer Garagisten im Zusammenhang mit dem Referendum mit auf den Weg geben?
Zuerst einmal ist es mir ein Anliegen, den Garagistinnen und Garagisten für ihre enormen Anstrengungen für eine nachhaltigere Strassenmobilität aufrichtig zu danken. Was von ihnen im Bereich der Elektroantriebe, der Aufbereitung und Pflege der «Steckerfahrzeuge» in den letzten Jahren geleistet wurde, verdient Anerkennung und allergrössten Respekt. In Diskussionen heisst es oft, dass der motorisierte Individualverkehr im Widerspruch zum neuen Klimagesetz stehe. Diese Bemerkung stimmt künftig nicht mehr, weil immer mehr Elektrofahrzeuge auf den Strassen unterwegs sein werden. Nebst der Endlichkeit des Erdöls ist dies auch der Wille der Politik und der Bevölkerung. Das heisst: Die Strassen, die wir heute ausbauen, werden in Zukunft von klimaverträglichen Fahrzeugen befahren. Das ist massgeblich auch ein Erfolg der Garagisten, welche die Fahrzeuge verkaufen und pflegen, welche dem Kunden die Gewissheit geben, bei ihnen weiterhin gut aufgehoben zu sein. Chapeau!
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